Mal ganz nüchtern festgestellt: Die Zeiten haben sich schon immer gewandelt – früher oder später. Dass aber der Begriff des Zeitenwandels heutzutage schier inflationär um sich zu greifen scheint, mag an der Vielzahl betroffener Lebensbereiche liegen und ebenso dem rasanten Tempo geschuldet sein.
Historisch gesehen wurden Pferdedroschken eines Tages nicht mehr benötigt und auch Laternenanzünder waren irgendwann gut beraten, sich beruflich umzuorientieren. Jüngere Beispiele für kollabierende Märkte sind die analoge Fotografie oder Videotheken. Es braucht außerdem nicht viel Phantasie, den Eco-Systemen um Verbrennungsmotor oder Briefpost düstere Zeiten vorherzusagen.
Das muss sprichwörtlich kein Beinbruch sein, wenn man es frühzeitig erkennt und sich darauf einstellt. Marktfähigkeiten und -chancen von Produkten und Dienstleistungen zu eruieren, gehört insofern zu den grundlegenden Aufgaben im Marketing. Leider erkennen gerade die Betroffenen selbst oft zu spät, dass die Zeit für etwas vorbei ist. Die einen wollen es nicht wahrhaben, die anderen suchen die Schuld bei anderen und versuchen, das Blatt zu wenden. Alles wird getan, solange nur die bewährten Geschäftsmodelle und eingeschliffenen Prozesse nicht radikal verändert werden müssen.
Ähnlich angezählt scheint sich der stationäre Einzelhandel im Strudel des Zeitenwandels zu befinden; lediglich der Lebensmittelmarkt hält dabei die Nase noch über der Wasserlinie. Das mag vordergründig daran liegen, dass die Innenstädte immer unattraktiver geworden sind, die „bösen Kunden“ zunehmend lieber online einkaufen und sowieso der Corona-bedingte Shutdown und die steigenden Energiekosten samt Inflation an allem schuld sind.
Aber ist es wirklich noch zeitgemäß, wenn ein Händler nach seinem Gusto den Warenkorb deutlich begrenzt und man zu eingeschränkten Zeiten mühsam dort hinreisen muss? Und um nur ein Beispiel zu nennen: Sind vor Ort gekaufte Schuhe und Kleider, die schon mehrere Leute zuvor anprobiert hatten, nicht per se B-Ware, die zum vollen Preis verkauft wird – und zwar inklusive einer Marge, die je nach Produkt und Ort durchschnittlich irgendwo zwischen 40 und 50 Prozent liegt?
Die gleichen Hersteller, die vor Jahrzehnten erkannt haben, dass sie mehr verdienen, wenn sie im Billiglohnland produzieren (lassen), haben derweil ausgerechnet, dass der Direktvertrieb über den eigenen E-Shop oder Werksverkäufe selbst dann ertragreicher sind, wenn sie den Endkunden großzügige Rabatte einräumen. Kunststück, wenn sie die Einzelhandelsmarge und lokalen Vertriebsorganisationen von vorneherein einsparen.
In Szenarien wie diesen wird es für Ladengeschäfte immer schwerer, sich im Kampf um konsumwillige Endkunden zu behaupten. Rezepte gibt es indes viele: noch Service-orientierter auftreten, Nachhaltigkeit und Regionalität betonen, auf Einkauf als Erlebnis und hybriden Einzelhandel setzen. Städteplanerische Ansätze wie die 15-Minuten-Stadt können dem stationären Einzelhandel flankierend helfen, sich neu zu erfinden – oder kreative Konzepte wie Pop-up-Stores und dynamische Bepreisungen, wie man es von der Tankstelle kennt.
Ob und wann schlussendlich das klassische Ladengeschäft das Schicksal öffentlicher Wannenbäder oder Telegrammstationen teilt, kann jedoch nur die Zeit erweisen.